„Vom Polizisten überfallen“ – Artikel aus der taz vom 21.04.2017

Der Prozess um einen Polizisten, der einen Mann ohne Anlass brutal attackierte, geht in die nächste Instanz. Das Opfer durchlebt das Trauma nun zum dritten Mal. Von Karolina Meyer-Schilf

Für den rechtschaffenen, unbescholtenen Bürger V. de O. beginnt der Albtraum jetzt ein drittes Mal. Aber eigentlich, wenn man es genau nimmt, dann hat er seit vier Jahren nicht mehr aufgehört.

Am kommenden Donnerstag wird vor dem Bremer Landgericht die Berufungsverhandlung gegen den Mann eröffnet, der V. de O. vor vier Jahren frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit in Walle auflauerte. Er schlug ihm mehrfach mit der Faust ins Gesicht, eine richtige Prügelattacke, ohne Warnung und ohne Maß. So sagen es die Zeugen, und so sagt es der medizinische Sachverständige später im Prozess.

Die Verletzungen, die V. de O. an jenem Morgen davonträgt, sind so schwer, dass selbst die Rettungssanitäter sagen, sie hätten so etwas noch nicht gesehen – jedenfalls nicht nach einem Polizeieinsatz. Und das sollte es wohl sein, ein Polizeieinsatz: Knapp eine Stunde bevor V. de O. sich auf den Weg zur Arbeit in der Fleischfabrik machte, war in anderthalb Kilometern Entfernung ein Einbruch gemeldet worden.

Angeblicher Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

Der Zivilpolizist Marcel B. legte sich daraufhin auf die Lauer im Gebüsch an der Waller St.-Marien-Kirche. Als V. de O., ein Brasilianer mit schwarzer Hautfarbe und einer Tasche mit Wechselkleidung in der Hand, des Weges kam, stürzte sich Marcel B. auf ihn. Das Resultat der angeblichen polizeilichen Kontrolle: Eine Blow-out-Fraktur des linken Augenhöhlenbodens, eine Jochbeinfraktur sowie eine Kieferhöhlenfraktur mit Einblutungen.

Die körperlichen Wunden sind inzwischen verheilt, zurück bleiben massive psychische Traumata: V. de O. leidet bis heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen und einer Panikstörung. Wenn sich ihm jemand von hinten nähert, ist das für seine Psyche schon viel zu viel.

Er hat Schwierigkeiten bei der Arbeit, eine Fleischfabrik ist keine Spaßveranstaltung, der Ton dort rau. Er musste aus seiner Wohnung ausziehen, weil er nicht mehr allein sein konnte, öffentliche Verkehrsmittel musste er, der prekär Beschäftigte, der sich kein Auto leisten kann, ebenfalls meiden: „Er ist in seiner Lebensführung schwerst beeinträchtigt“, sagt seine Anwältin Britta von Döllen-Korgel. Wie er sein Leben trotzdem meistert? „Er schleppt sich irgendwie zur Arbeit, ich weiß nicht, wie er das schafft.“

Zwei Jahre dauerte es von der Tat bis zum ersten Prozess, was daran lag, dass der Polizeikommissar seinerseits das Opfer anzeigte: wegen angeblichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Dass das nicht haltbar war, hat das Gericht trotz der offenbar abgesprochenen Zeugenaussagen von B.s Kollegen – bei der Polizei heißt so etwas „Korpsgeist“ – schnell erkannt.

Marcel B. ist trotz Verurteilung noch im Dienst

Verurteilt wurde schließlich der Kommissar: Das Gericht stellte in seinem Urteil ungewöhnlich deutlich die „besondere Brutalität“ fest und verhängte für die Prügelattacke ein Jahr und drei Monate, ausgesetzt zur Bewährung. Das hätte das Ausscheiden aus dem Polizeidienst zur Folge gehabt. Marcel B., der seit 2015 vom Dienst suspendiert ist, hat gegen das erste Urteil Berufung eingelegt.

Daraufhin passierte ziemlich lange nichts. Zwei Jahre lag die Akte beim Landgericht, Anwältin von Döllen-Korgel sagt: „Dass es so lange dauert, ist absolut nicht üblich, das habe ich noch nie erlebt.“ Sie findet es „unglaublich“, dass erst jetzt, nunmehr vier Jahre nach der Tat, alles noch einmal von vorn losgeht: Eine komplette Hauptverhandlung mit um die 20 geladenen Zeugen – und einem schwer traumatisierten Opfer, das jetzt alles noch einmal durchleben muss.

Die Aussagen, die Bilder, alles Erlebte wird wieder aufgerührt. Dazu kommt: „Die Zeugenaussagen werden mit dem Zeitablauf nicht besser“, sagt Anwältin von Döllen-Korgel. Was sie sich für ihren Mandanten erhofft? „Ich hoffe, dass Marcel B. sein Verschulden einräumt“ und es nicht zu einer ellenlangen Hauptverhandlung komme. Sie hofft, dass der Albtraum für ihren Mandanten „auch mal ein Ende hat, und zwar eines mit einer Verurteilung“.