„Verhinderte Geständnisse“ (Artikel aus der jungen Welt vom 18.01.2016)

Heute vor 20 Jahren starben bei einem Brandanschlag in Lübeck zehn Menschen. Die Staatsanwaltschaft machte Opfer zu Tätern. Ein Gespräch mit Gabriele Heinecke

In der Nacht zum 18. Januar 1996 brannte in der Lübecker Hafenstraße ein Haus, in dem Flüchtlinge untergebracht waren. Bei dem Brand kamen drei Erwachsene und sieben Kinder und Jugendliche ums Leben. Sie haben den damals jungen Libanesen Safwan E. verteidigt, der beschuldigt wurde, das Feuer gelegt zu haben. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Fall?

In den 90er Jahren tobte der rechte Mob nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern gegen zahlreiche Menschen, die nicht deutsch aussahen. Menschen wurden wegen ihrer Hautfarbe erstochen oder totgeprügelt, es gab viele Brände in von Flüchtlingen und Ausländern bewohnten Häusern. 1993 war faktisch das Asylrecht des Artikels 16 des Grundgesetzes abgeschafft worden. Der CSU-Politiker und frühere Innenminister Friedrich Zimmermann hatte zuvor mit Parolen wie »das Boot ist voll« gehetzt und erklärt, das »Ausländerproblem« sei nicht zuletzt auch ein »Umweltproblem«. Bei vielen Bränden schien es die Systematik zu geben, die Geschädigten selbst der Tat zu verdächtigen. Das geschah auch im Fall der Lübecker Hafenstraße. Obwohl sich vier junge Rechte aus Grevesmühlen zu Beginn des Brandes vor dem Haus befanden und drei von ihnen typische Brandlegerspuren hatten, die alle nicht älter als 24 Stunden waren, wurden sie nach vorläufiger Festnahme am nächsten Tag wieder entlassen. Ihnen wurde von der Staatsanwaltschaft ein Alibi angedichtet. Der damals 20jährige Safwan E. dagegen wurde festgenommen und sechs Monate in Untersuchungshaft gehalten. Im Prozess vor dem Landgericht Lübeck wurde er freigesprochen. Nachdem ein Nebenkläger gegen das Urteil erfolgreich Revision eingelegt hatte, wurde er von dem dann zuständigen Landgericht Kiel ein zweites Mal freigesprochen. Bei der Urteilsverkündung erklärte der Vorsitzende Richter, die Kieler Strafkammer hätte das Verfahren gegen Safwan E. erst gar nicht eröffnet, wenn sie gleich zuständig gewesen wäre.

Wie konnte es dazu kommen, dass die Männer aus Grevesmühlen umgehend wieder entlassen wurden? Gab es keine ausreichenden Beweise, um ihnen den Prozess zu machen?

Das ist das Verwunderliche. Die Staatsanwaltschaft Lübeck hat sich früh entschieden, wirklich Tatverdächtige und Opfer zu vertauschen. Safwan E. war die letzte Person, die mit dem Drehleiterwagen der Feuerwehr gerade noch vom Dach des brennenden Hauses gerettet werden konnte. Der Verdacht gegen ihn war durch die Aussage eines Sanitäters zustande gekommen, einer schillernden Person, einem schwierigen Zeugen. Er hatte behauptet, in einem Verletztenbus von Safwan E. gehört zu haben: »Wir warn’s. Wir haben Benzin gegen die Tür gegossen, und das ist dann brennend die Treppe runtergelaufen«. Die Aussage des Zeugen war erfunden.

Bei den Männern aus Grevesmühlen dagegen gab es im Laufe der Zeit immer massivere Verdachtsmomente. So wurde bekannt, dass einer von ihnen, der sich selbst »Klein Adolf« nannte, Anfang Januar 1996 die Tat angekündigt hatte. Drei der vier Männer befanden sich zur Tatzeit am Tatort, der vierte in der Nähe. Mit ihrer rechten Gesinnung hatten sie ein Motiv. Drei von ihnen hatten die frischen und typischen Brandlegerspuren, für die abenteuerliche Erklärungen abgegeben wurden. Der eine behauptete, mit dem Feuerzeug in seinen Mofatank hineingeleuchtet zu haben, um den Füllstand zu prüfen. Es habe eine Stichflamme gegeben, durch die er sich versengt habe. Der zweite will ein ähnliches Erlebnis gehabt haben, als er den Deckel seines Kohleofens geöffnet habe. Und »Klein Adolf« will seinen Hund mit Haarspray besprüht und versucht haben, ihn anzuzünden. Die dabei entstehende Stichflamme habe ihn verletzt. Nachdem der Hund durch diese Aktion nicht tot gewesen sei, habe er ihn in seinen Backofen gepackt. Später habe er den Hund ins Gelände geworfen. Die Polizei durchkämmte Monate später auf der Suche nach den Überresten des Hundes ein Waldstück und einen Acker. Es wurden auch Gebeine gefunden, die sich bei einer Analyse als Fischknochen herausstellten. Das Ganze war absurdes Theater, das damit endete, dass »Klein Adolf« trotz fehlender Hundeleiche wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz angeklagt und verurteilt wurde.

Später gab es von ihm und einem zweiten der Grevesmühlener Geständnisse, die Täterwissen bewiesen. »Klein Adolf« befand sich zum Zeitpunkt seiner Geständnisse gerade in anderer Sache in Haft. Er hatte seinen Abteilungsleiter angesprochen und erklärt, ihm alles berichten zu wollen, damit man später nicht sagen könne, er habe es nicht gesagt. Der Beamte hatte geistesgegenwärtig die Aussage handschriftlich festgehalten, sich jede Seite gegenzeichnen lassen und die Staatsanwaltschaft informiert. Doch es wurde kein Verfahren eingeleitet. »Klein Adolf« erhielt von dem zuständigen Staatsanwalt und einem Kriminalbeamten Besuch in der Justizvollzugsanstalt, die ihm das Geständnis wieder ausredeten. Dasselbe geschah noch einmal, nachdem der Spiegel über ein weiteres Geständnis berichtet hatte. Ein unglaublicher Vorgang, der damit endete, dass »Klein Adolf« nun auch wegen falscher Verdächtigung zum Nachteil seiner drei Kumpane angeklagt und verurteilt wurde, die in der Nacht zum 18. Januar 1996 mit ihm in Lübeck waren. Da die Staatsanwaltschaft nicht müde wurde zu behaupten, die Grevesmühlener könnten nicht die Täter gewesen sein, müsse »Klein Adolf« sich und die anderen drei zu Unrecht bezichtigt haben. Seitdem ist ihm das Geständnis sozusagen justitiell verboten.
EVG – Walter Kaufmann

Es gab auch Hinweise auf die Verstrickung eines V-Mannes des Landeskriminalamtes in den Fall. Gehen Sie davon aus, dass Inlandsgeheimdienste und Polizeibehörden mehr wissen als öffentlich bekannt ist?

Darüber habe ich keine belastbaren Erkenntnisse. Einerseits scheint mir der Fall durch die Indizien und die Geständnisse aufgeklärt zu sein, wobei ich bis heute nicht begreifen kann, warum die Staatsanwaltschaft die Grevesmühlener nicht angeklagt und die Verdachtsmomente gegen sie nicht in einem ordentlichen Gerichtsverfahren hat prüfen lassen. Andererseits haben wir einen Umstand, über den bis heute nur spekuliert werden kann. Der Bewohner Silvio A. wurde nach dem Brand im Eingangsbereich des Hauses tot aufgefunden. Er hatte kein Kohlenmonoxid im Blut und keinen Ruß in der Lunge, war also nicht an dem Brand gestorben. Um seinen Körper war ein Draht gewunden, der nicht aus dem Haus stammen konnte. Die Leiche war völlig verkohlt, nur am Rücken fand sich eine Aussparung, die darauf schließen ließ, dass dieser Mensch im Sitzen auf einem Stuhl oder Sessel verbrannt war. Wenn man den Hintergrund des Todes von Silvio A. klären könnte, würde sich der Fall wahrscheinlich lösen lassen.

Können Sie Parallelen zwischen dem Lübecker Brandanschlag und dem Vorgehen der Geheimdienste, der Polizei und der etablierten Politik beim Terror des neofaschistischen Netzwerks »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) erkennen?

Eine solche Frage lässt sich erst beantworten, wenn dazu Fakten erhoben worden sind. Gerade das hat die Staatsanwaltschaft verhindert. Angesichts der im NSU-Verfahren aufgedeckten Verstrickung zwischen der faschistischen Terrororganisation und staatlichen Stellen in den 90er Jahren gibt es allerdings allen Anlass, auch den Brand in der Hafenstraße unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen.

Welche Forderungen ergeben sich daraus? Könnte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss noch Licht ins Dunkel bringen?

Die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses ist eine alte Forderung von mir. Das Geschehen am 18. Januar 1996 war so grauenhaft, dass man es angesichts der vorliegenden Fakten nicht einfach auf sich beruhen lassen darf. Es war ein Brandanschlag mit zehn toten und 38 zum Teil schwer verletzten Menschen. Es muss einen Grund geben, warum die Staatsanwaltschaft mit krauser Argumentation gleichsam die Verteidigung der Männer aus Grevesmühlen übernommen hat. Ich halte als Versuch einer Erklärung die Vermutung für zulässig, dass im Verantwortungsbereich staatlicher Stellen etwas geschehen ist, was nicht bekannt werden soll.

Haben sich nach Ihrem Eindruck die Politik und die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 20 Jahren zum Positiven entwickelt?

Im Hinblick auf die Flüchtlingssituation sicherlich nicht. Die Bundesrepublik als wirtschaftlich und politisch bestimmendes Land in Europa versucht alles zu tun, um die Folgen einer ausbeutenden und rücksichtslosen Politik der imperia­len Länder nicht tragen zu müssen. Die faktische Abschaffung des grundgesetzlichen Asylrechts, die Vereinbarungen zur Festung Europa, das Zusehen beim tausendfachen Sterben im Mittelmeer, das den Schleppern und nicht den Verursachern der Fluchtbewegungen zugeschrieben wird und nur als Vorwand für weitere Gesetzesverschärfungen dient, das alles ist keine Entwicklung zum Besseren. Und einer Gesellschaft, die das sich vor unseren Augen abspielende Drama für eine humanitäre Angelegenheit hält und nicht erkennt, dass die unglaublichen sozialen Verwerfungen, Terror und Kriege eine Folge der Neuaufteilung der Welt nach 1990, von nicht geführten Klassenkämpfen und nicht vorhandener internationaler Solidarität sind, lässt sich gewiss keine positive Entwicklung attestieren.