haz-Artikel vom 05. Juni 2015
Die gewaltsamen Übergriffe eines Bundespolizisten auf zwei Flüchtlinge in Hannover sind kein Einzelfall. Das behauptet ein Beamter der Polizeidirektion der Landeshauptstadt im Gespräch mit der HAZ. Vier seiner Kollegen und er hätten über Jahre hinweg Ausländer misshandelt.
Hannover. Schwarzafrikaner sollen geschlagen und mit Reizgas attackiert worden sein. Die Täter seien nicht zur Rechenschaft gezogen worden, weil sie sich gegenseitig geschützt hätten. Dies sei ein „System“ gewesen. Beamte sollen Festnahmeprotokolle gefälscht haben. „Es ist nicht die Ausnahme, dass Beamte im Dienst Straftaten begehen“, sagt Thomas Wüppesahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten. „Es ist die Ausnahme, wenn es bekannt wird.“
Die Polizeidirektion Hannover kennt den Fall nicht. Sie verweist auf ihre umfangreichen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, in denen neben Deeskalationstraining auch die Rolle und das Selbstverständnis der Beamten thematisiert werden. „Ich erwarte von jeder Kollegin und jedem Kollegen die Courage, solche Vorfälle umgehend zu melden“, sagt Polizeipräsident Volker Kluwe.
Die Stimme des Beamten Thomas S. (Name geändert) ist fest. Ruhig berichte er von seinen Vergehen im Dienst. Mehrfache Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Vernichtung von Dokumenten – diese und weitere Straftaten hat er über Jahre hinweg gemeinsam mit Kollegen begangen, wie er sagt. „Heute tut mir das unendlich leid“, erklärt S.. Die Konsequenzen für seine Taten bekam er allerdings nicht zu spüren, weil die Vorfälle nicht bekannt wurden, da die Beamten alles geschickt vertuschten. Thomas S. ist bis heute Polizist in Hannover.
Die jüngste Berichterstattung über den Fall des Bundespolizisten am hannoverschen Hauptbahnhof, der im Verdacht steht, zwei Flüchtlinge misshandelt zu haben, hat ihn dazu veranlasst, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. „Im Fall der Bundespolizei heißt es jetzt, das sei ein bedauerlicher Einzelfall“, sagt S. „Das stimmt aber nicht. Das sind keine Einzelfälle, weder die rassistischen Sprüche, noch die Übergriffe.“ Nach Ansicht des Beamten gibt es eine Art System, durch das Verfehlungen von Polizisten im Dienst verdeckt werden können. S. spricht dabei aus Erfahrung. Er gibt an, selbst über Jahre hinweg Teil dieses Systems gewesen zu sein. „Es hat bis heute Bestand, daran hat sich nichts geändert“, sagt er.
Davon sind auch Organisationen überzeugt, die sich mit dem Thema Polizeigewalt befassen. „Die Umstände in Behörden begünstigen, dass Straftaten nicht ans Licht kommen“, sagt Maria Scharlau von Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation hat im Jahr 2010 einen Bericht mit dem Titel „Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland“, veröffentlicht. In vielen Dienststellen seien bis heute immer die gleichen Teams eingesetzt. „Es entstehen sogenannte Gefahrengemeinschaften, in denen man sich auch mal etwas durchgehen lässt“, sagt Scharlau. Auch Thomas Wüppesahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten und früher selbst Polizist, spricht von einem falschen Korpsgeist. „Es ist nicht die Ausnahme, dass Beamte im Dienst Straftaten begehen“, sagt er. „Es ist die Ausnahme, wenn es bekannt wird.“
Der hannoversche Polizist Thomas S. hat bereits früh in seiner Laufbahn mit dem System Bekanntschaft gemacht. Nach der Ausbildung war er als Bereitschaftspolizist bei einem Fußballspiel in Celle eingesetzt, bei dem es zu Ausschreitungen kam. S. wurde Zeuge, wie während des Einsatzes ein völlig unbeteiligter 16-Jähriger von drei Kollegen zusammengeschlagen wurde. Der Jugendliche erstattete Strafanzeige. Als S. seine Zeugenaussage machen sollte und dabei die Namen der betroffenen Beamten nennen wollte, legte sein Vorgestzter ihm einfach die richtigen Worte in den Mund. Obwohl S. mehrfach angab, er wisse die Namen der Verantwortlichen, landete im Protokoll, dass er die Polizisten wegen ihrer gleichen Schutzkleidung nicht erkennen konnte. Der Fall blieb ungesühnt. „Da wurde mir klar, wie das System funktioniert“, sagt S.
Wenige Jahre später versah der Beamte Dienst auf einem Revier in Hannover. Die Expo stand unmittelbar bevor. S. und seine Kollegen hatten es immer wieder mit schwarzafrikanischen Drogendealern zu tun, die wegen der Weltausstellung aus der Innenstadt vertrieben worden waren und deshalb in anderen Vierteln ihren illegalen Geschäften nachgingen. S. war regelmäßig im Nachtdienst eingesetzt, gemeinsam mit drei weiteren Kollegen und einer Kollegin. Als sich die Beschwerden von Eltern über die Rauschgifthändler häuften, die meist auf Spielplätzen ihre Waren verkauften, und die Beamten das Gefühl hatten, die Justiz würde nicht hart genug gegen die Täter vorgehen, schritten die Beamten selbst zur Tat. „Wir beschlossen, dass wir die Dealer selber bestrafen“, sagt S.
Das sagt Polizeipräsident Volker Kluwe
„Ich bin der festen Überzeugung, dass die ganz große Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizeidirektion Hannover gute Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger leistet. Sollte es trotz all unserer Maßnahmen zu Vorfällen kommen und diese nicht von den Betroffenen selbst angezeigt werden, erwarte ich von jeder Kollegin und jedem Kollegen die Courage, diese umgehend zu melden. Missstände müssen umfassend und bedingungslos aufgeklärt, konsequent geahndet und vor allem abgestellt werden. Dafür werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln persönlich einsetzen. Korpsgeist ist hier fehl am Platze! Dazu bedarf es aber der frühzeitigen Information der Verantwortlichen. Darüber hinaus haben wir auch ein funktionierendes Beschwerdemanagement in der Behörde sowie eine unabhängige Beschwerdestelle im Innenministerium.“
Nach der Darstellung des Beamten begann alles mit kleineren Schikanen. Wurde ein mutmaßlicher Drogendealer zur Wache mitgenommen, soll es vorgekommen sein, dass jemand aus dem Nachtdienst den Ausweis des Verdächtigen zerstörte, um bei der nächsten Kontrolle erneut Handhabe gegen ihn zu haben. „Später sind wir dann gezielt losgezogen, um ,Neger zu klatschen‘, wie wir das genannt haben“, sagt S. Den Worten des Beamten zufolge bedeutete das, den Verdächtigen unter einem Vorwand auf die Wache zu bringen. „Auf dem Weg dorthin wurde er hart angefasst“, sagt der Polizist. Mit anderen Worten, er wurde geschubst, bekam einen Faustschlag oder einen Tritt ab.
Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, sollen die Verletzungen in den Protokollen „gerade geschrieben“ worden sein, wie die Beamten das nannten. Dort wurde dann vermerkt, der Verdächtige habe massiv Widerstand geleistet und sich dabei verletzt.
Die Gewaltbereitschaft der Beamten soll sich immer weiter gesteigert haben. In einem Fall sollen sie während Reizgas über die Lüftung in eine Gewahrsamszelle gesprüht haben, in der sich ein Verdächtiger befand. Einen Metallschrank soll die Gruppe genutzt haben, um Festgenommene zu drangsalieren. „Wir haben Verdächtige eingesperrt und dann von Außen dagegen getreten oder den Schrank ganz umgeworfen“, sagt S. In der Wache gab es regulär drei Gewahrsamszellen. Im Sprachgebrauch der Beamten hieß der Schrank nur „Zelle 4“. Um Tatverdächtige besonders zu schikanieren, sollen Mitglieder der Gruppe ihnen Schuhe, Strümpfe und Jacken abgenommen haben. Anschließend sollen die Polizisten die Betroffenen zum Bockmerholz, einem Waldgebiet am Kronsberg gefahren, sie dort aus dem Fahrzeug geworfen und anschließend ihrem Schicksal überlassen haben. „Dabei waren uns die Außentemperaturen vollkommen egal“, sagt S.
Der Polizist ist sich sicher, dass seine Taten im Kollegenkreis keine Einzelfälle sind. Darauf deuten auch Aussagen von Personen hin, die nach einer Festnahme in die Dienststelle an der Herschelstraße kamen. Dort soll es immer wieder zu Übergriffen kommen. „Jeder Polizist lernt in seiner Ausbildung den Grundsatz ,Bundesrecht bricht Landesrecht‘“, sagt S. „Wer eine Zeit lang Dienst in Hannover gemacht hat, kennt auch die Regel ,Herschelrecht bricht Bundesrecht‘.“
Thomas S. zog nach etwa drei Jahren die Reißleine. Der Beamte konnte sein und das Verhalten seiner Kollegen nicht mehr länger ertragen, wie er sagt. Den Mut, seinen Vorgesetzten den wahren Grund für seinen Wechsel in den Tagesdienst zu nennen, brachte er nicht auf. Stattdessen ließ er sich von einem Arzt ein Attest ausstellen, das ihn aus dem Nachtdienst befreite.
„Damit war ich raus aus der Gruppe – für mich war das die einzige Möglichkeit“, sagt er. Zwei der Kollegen von damals sollen heute auch noch im Dienst der Polizeidirektion Hannover sein. Der dritte Beamte ist inzwischen in Pension. „Was aus der Frau geworden ist, kann ich nicht sagen“, sagt der Beamte.
Kommt heutzutage im Freundeskreis die Sprache auf mutmaßliche Verfehlungen von Polizisten, versucht er, sich aus dem Gespräch heraus zu halten: „Werde ich direkt auf einen Vorfall angesprochen, sage ich, dass es sich dabei sicher nur um einen Einzelfall handelt.“
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